Generation Stress – Warum junge Menschen heute früher schlapp machen und wie wir die innere Widerstandskraft zurückerobern
- Anne

- vor 3 Tagen
- 14 Min. Lesezeit
Um das zu verstehen, müssen wir einmal tief eintauchen. Nicht nur in das Innenleben des Nervensystems, sondern auch in die Welt, in der frühere Generationen groß geworden sind – und in die Welt, die junge Menschen heute jeden Tag verarbeiten müssen. Es reicht nämlich längst nicht mehr, Stress als rein psychologische Angelegenheit zu betrachten. Aus PNI-Sicht sprechen wir hier über ein Zusammenspiel aus Gehirn, Hormonsystem, Immunsystem, sozialen Kontexten und kulturellen Wandlungsprozessen. Und das ist ungefähr so komplex, wie es klingt – aber deutlich spannender als jede Netflix-Serie über den Verfall der Menschheit. Hat R. D. Precht denn Recht mit seiner Aussage, „jüngere Menschen haben es heute härter als die Generationen vor ihnen? Grund sei, dass sie nicht resilient gegenüber den „geballten Stress“ sind, der ihnen nach dem Auszug bei den Eltern begegnet“ (Auszug aus Lanz&Precht).
Während frühere Generationen noch ein Leben führten, das rhythmischer und vorhersehbarer war, gleicht das Leben junger Menschen heute einem Dauerfeuer aus Mikrostressoren. Und Mikrostressoren sind wie Mückenstiche: Einer tut nicht weh, zehn nerven, aber wenn du jeden Tag hundert bekommst, ist irgendwann nicht mehr nur die Haut gereizt, sondern das gesamte Immunsystem. Das Nervensystem wird heute nicht mehr mit einzelnen, tief einschneidenden Herausforderungen konfrontiert, sondern mit einer permanenten Flut kleinerer Reize. Das Problem daran ist, dass der Körper auf viele kleine Stressfaktoren genauso reagieren kann wie auf einen großen. Die Summe macht den Schaden.
Frühere Generationen wuchsen in einer Umwelt auf, in der Erholung noch selbstverständlich war. Der Feierabend existierte wirklich. Niemand hatte ein Smartphone in der Hosentasche, das mitten in der Nacht Nachrichten ausspuckte. Stille war kein Luxusgut, sondern ein natürlicher Bestandteil des Tages. Und selbst wenn Probleme auftauchten, hatten sie einen klaren Anfang und ein klares Ende. Heute dagegen verschwimmen diese Grenzen. Der Arbeitsplatz wandert mit nach Hause, Social Media zeigt rund um die Uhr, wie viel produktiver, kreativer oder sportlicher andere Menschen angeblich sind – und Streamingdienste sorgen dafür, dass selbst die Erholung manchmal anstrengender wirkt als die Arbeit selbst.
Dazu kommt eine zweite Dimension, die Prechts Aussage noch nachvollziehbarer macht: das Fehlen natürlicher Resilienzschulungen. Kinder vergangener Jahrzehnte mussten Entscheidungen treffen, Konflikte aushalten und auch Langeweile ertragen. Langeweile ist aus PNI-Sicht eine Wunderwaffe, weil sie dem Gehirn Gelegenheit gibt, Emotionen zu verarbeiten, innere Prozesse zu regulieren und neuronale Netzwerke neu zu ordnen. Langeweile ist der biologische Reset-Knopf, den wir heute durch permanente Ablenkung kaum noch betätigen.
Junge Menschen dagegen wachsen in einer Welt auf, in der kognitive Überstimulation allgegenwärtig ist. Während früher ein Nachmittag ohne Beschäftigung beinahe selbstverständlich war, wird heute jede freie Minute gefüllt – mit Videos, Chats, Newsfeeds oder Gaming. Nicht aus bösem Willen, sondern weil die digitalen Systeme genau darauf ausgelegt sind. Das führt jedoch dazu, dass das Nervensystem kaum noch zu echter Ruhe kommt. Und ein Nervensystem, das nie zur Ruhe kommt, reagiert irgendwann gereizt – oder macht dicht.
Hinzu kommt eine steigende emotionale Belastung. Globale Krisen werden nicht mehr einmal täglich in der Tagesschau präsentiert, sondern rollen im Minutentakt über alle Bildschirme. Das führt dazu, dass das Gehirn kaum unterscheiden kann, ob eine Bedrohung sich tatsächlich vor der Haustür abspielt oder am anderen Ende der Welt. Aus Sicht der Stressbiologie macht das keinen Unterschied. Bedrohung ist Bedrohung. Und das erklärt, warum junge Menschen häufiger mit Angst, Unsicherheit und Erschöpfung reagieren. Ihre Systeme sind nicht schwächer – sie sind schlicht intensiver gefordert.
Wenn wir dann noch die elterliche Fürsorge betrachten, die in den letzten zwei Jahrzehnten in vielen Fällen liebevoll gemeint, aber überprotektiv umgesetzt wurde, ergibt sich ein weiteres biologisches Puzzlestück. Viele heutige junge Erwachsene haben schlicht weniger Situationen erlebt, in denen sie Stress eigenständig regulieren mussten. Kein Kind entwickelt Resilienz, wenn jedes Hindernis sofort weggeräumt wird, bevor es überhaupt stören kann. Das ist ähnlich, als würde man Muskeln trainieren wollen, aber jedes Gewicht vom Trainer wegschieben lassen. Nett, aber biologisch ineffektiv.
All das führt dazu, dass junge Menschen heute nicht schwächer sind, sondern weniger „eingespielt“. Sie stehen einer Welt gegenüber, die mehr Geschwindigkeit, mehr Komplexität und mehr Reize bietet, ohne dass ihre innere Stressarchitektur dieselben Trainingsmöglichkeiten hatte wie die Generationen davor. Und das ist kein Vorwurf, sondern eine Erklärung – und eine Einladung, neue Wege der Selbstregulation zu finden.
Die gute Nachricht: Das Nervensystem ist formbar. Es reagiert auf Training, auf Pausen, auf Bewusstheit. Es heilt, reguliert sich und wächst mit seinen Aufgaben, wenn wir ihm die richtigen Bedingungen dafür geben. Resilienz ist kein starres Konzept, sondern ein biologischer Lernprozess – und Lernen kann jeder Mensch, jederzeit, unabhängig von seiner Vergangenheit. Genau darin liegt das Potenzial dieser Generation: Sie hat die Werkzeuge, das Wissen und die Möglichkeit, sich selbst besser zu verstehen als jede Generation zuvor. Und dieses Verständnis ist der Schlüssel, um die innere Widerstandskraft nicht nur zurückzugewinnen, sondern vielleicht sogar auf einem höheren Niveau zu entwickeln, als es frühere Generationen jemals konnten.
Warum frühere Generationen tatsächlich stress-resistenter wirkten –
PNI erklärt die Vergangenheit
Wenn ältere Menschen sagen: „Früher war alles einfacher“, klingt das manchmal, als würden sie von einer magischen Zeit sprechen, in der Kühe lila waren, Kinder sich selbst großzogen und Probleme sich bei Sonnenuntergang höflich verabschiedeten. Natürlich verklären viele rückblickend die Vergangenheit ein wenig – das tut das Gehirn, weil es aus Schutzgründen negative Erinnerungen gern weichzeichnet. Doch trotz dieser nostalgischen Verklärung stimmt etwas Grundlegendes: Die Belastungslandschaft früherer Generationen funktionierte biologisch anders. Und zwar so anders, dass das Nervensystem deutlich mehr Gelegenheit hatte, Stress sinnvoll zu verarbeiten.
Früher kamen Stressoren oft in einer Form daher, die man aus PNI-Sicht als „intermittierend“ bezeichnet. Das bedeutet: Es gab Stress, aber er kam in klaren Episoden, mit einem Anfang, einem Spannungsbogen und – ganz wichtig – einem Ende. Ein strenger Lehrer konnte den Puls nach oben treiben, aber sobald man aus dem Klassenzimmer war, fiel der Stresspegel wieder ab. Eine schlechte Ernte war zweifellos ein Problem, aber sie war ein saisonales Ereignis, kein dauerhafter Minutentakt aus Alarmmeldungen. Selbst ein cholerischer Chef war ein Stressfaktor, aber er war örtlich begrenzt – wenn man das Werkstor verließ, blieb der Chef im besten Fall hinterm Zaun.
Diese Form von Stress hatte eine entscheidende biologische Eigenschaft: Sie war punktuell, und der Körper konnte sich danach wieder regulieren. Das Nervensystem durfte atmen. Die Stressachse konnte hochfahren, ihren Job erledigen und wieder herunterfahren, so wie es die Natur vorgesehen hat. Dieser rhythmische Wechsel zwischen Aktivierung und Entspannung ist das Fundament, auf dem Resilienz überhaupt erst entsteht. Stress ist in der Biologie kein Feind – chronischer Stress ist einer. Und chronischer Stress entsteht erst, wenn keine Regeneration mehr möglich ist.
Frühere Generationen lebten in einer Umwelt, in der Stille ein natürlicher Bestandteil des Tages war. Wenn man abends zuhause war, war man zuhause. Telefone waren fest installiert, erreichbar war man nur innerhalb einer bestimmten Reichweite und vor allem nur für eine begrenzte Zahl von Menschen. Nachrichten gab es ein- bis zweimal täglich, oft mit klaren Hierarchien der relevanten Informationen. Die Welt war nicht weniger herausfordernd, aber sie war deutlich weniger durchlässig. Informationen prasselten nicht ununterbrochen in mikrosekundenschnellen Schüben auf das Nervensystem ein.
Auch Vergleiche fanden in einem natürlichen Rahmen statt. Man sah die Nachbarskinder, vielleicht die Schulklasse, die Großfamilie – aber man verglich sich nicht mit hunderttausenden optimierten, gefilterten Selbstdarstellungen, die im Sekundentakt ein Gefühl von „Alle sind besser als ich“ erzeugen. Aus PNI-Sicht spielen soziale Vergleiche eine enorme Rolle für die Aktivität der Amygdala, also der Hirnregion, die Bedrohungen verarbeitet. Weniger ständige Vergleichsreize bedeuteten also weniger Stressimpulse.
Zu all dem kommt ein Faktor, der heute fast lächerlich banal klingt, aber biologisch von enormer Bedeutung ist: Das Gehirn hatte früher natürliche Pausen. Lange Strecken der Monotonie, der Wiederholung, der Ruhe. Gartenarbeit, Busfahrten, Stillstand. Diese Phasen wirken wie ein Reset für das Nervensystem. Sie ermöglichen dem Gehirn, erlebte Ereignisse zu sortieren und emotionale Prozesse abzuschließen. Heute wäre eine Stunde Langeweile für viele Menschen bereits eine mittelschwere Existenzkrise – früher war sie Alltag.
Gleichzeitig gab es wesentlich mehr Möglichkeiten, Stress handlungsorientiert zu bewältigen. Kinder spielten draußen, stritten sich, lösten Konflikte, bildeten Allianzen, fanden Lösungen – und ja, sie riskierten gelegentlich auch ein gebrochenes Schienbein oder eine blutige Lippe, aber das gehörte dazu. Diese Erfahrungen waren kleine, aber hochwirksame Trainingseinheiten für das autonome Nervensystem. Sie schulten Selbstwirksamkeit, Problemlösung und Frustrationstoleranz, was nachweislich die Stressregulation im Erwachsenenalter beeinflusst.
Die berühmten Baumklettergeschichten – bei denen Kinder problemlos in Höhen kletterten, bei denen heutigen Eltern der Kreislauf kollabieren würde – waren mehr als Mutproben. Sie waren Resilienzbiologie in Aktion. Jedes Hochklettern, jedes Rutschen, jedes Abstimmen mit anderen Kindern formte neuronale Netzwerke, die später im Leben halfen, Herausforderungen gelassener zu bewältigen. Miller, G. E., Chen, E., & Parker, K. J. (2011) fanden genau diesen Effekt: Kontrollierbare Stressoren in der Kindheit führen zu stabileren Stressreaktionen und geringerer Entzündungsaktivität im Erwachsenenalter. Biologisch gesprochen: Wer gelernt hat, kleine Krisen zu meistern, reguliert große besser.
Das bedeutete nicht, dass frühere Generationen weniger Sorgen hatten. Sie litten unter wirtschaftlichen Ängsten, gesellschaftlichen Spannungen, körperlicher Arbeit und gesundheitlichen Unsicherheiten, die wir heute kaum nachvollziehen können. Aber sie hatten mehr Raum, Stress zu bearbeiten, statt ihn nur zu erleben. Probleme kamen nacheinander, nicht gleichzeitig. Und sie hatten ein natürliches Ende. Sorgen durften sich setzen, Lösungen durften wachsen, und das Nervensystem konnte dazwischen immer wieder zur Ruhe finden.
Genau diese Ruhe fehlt heute. Und daher wirkte die Vergangenheit – biologisch betrachtet – wie ein Trainingsfeld für Resilienz, während die Gegenwart eher einem Dauerlauf gleicht, bei dem niemand weiß, wann die Ziellinie kommt.
Warum die heutige Generation biologisch benachteiligt ist – ganz ohne Schuldzuweisung
Junge Menschen wachsen heute in einem Dauerfeuer an Reizen auf, das in seiner Intensität und Häufigkeit so neu ist, dass kein menschliches Nervensystem der Welt jemals darauf vorbereitet sein konnte. Das moderne Leben gleicht einer Art neurobiologischem Feuerwerk, das nicht nur an Silvester, sondern an 365 Tagen im Jahr, 24 Stunden am Tag gezündet wird. Digitale Geräte sind dabei nicht nur harmlose Begleiter, sondern hochwirksame Stimulatoren, die entwickelt wurden, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, Aufmerksamkeit festzuhalten und sie immer wieder zurückzurufen – so hartnäckig wie ein Labrador, der gefunden hat, dass du vielleicht irgendwo einen Keks versteckst.
Für das Stresssystem, insbesondere die HPA-Achse, bedeutet das eine ständige Aktivierung. Aus Sicht der PNI ist das ungefähr so, als würde jemand den Feueralarm immer wieder kurz anschlagen, nur um zu prüfen, ob du noch wach bist. Jedes Lichtsignal, jede Nachricht, jeder Kommentar löst eine kleine Welle von Stresshormonen aus. Und während ein einzelner solcher Impulse harmlos wäre, sind es in Summe hunderte am Tag. Die Forschung zeigt eindeutig, dass dieser konstante, fragmentierte Stress zu erhöhter Cortisolproduktion führt und den Schlafrhythmus stört, was sich wiederum direkt auf die emotionale Stabilität, das Immunsystem und die Fähigkeit zur Stressregulation auswirkt ( Sapolsky, R. M. (2004). Why Zebras Don’t Get Ulcers: The Acclaimed Guide to Stress, Stress-Related Diseases, and Coping (3rd ed.). New York: Henry Holt. Inhalt: Biologie von Stress, HPA-Achse, Cortisol, Stresskrankheiten, Coping.; Walker, M. P., & Stickgold, R. (2006). Sleep, memory, and plasticity. Annual Review of Psychology, 57, 139–166. https://doi.org/10.1146/annurev.psych.56.091103.070307
Schlaf ist gewissermaßen der Reset-Knopf des Gehirns, und wenn dieser Knopf ständig verklebt ist, hängt das gesamte System.
Doch die Digitalisierung allein erklärt nicht die enorme Stresslast der heutigen jungen Erwachsenen. Parallel dazu hat sich auch die emotionale Umwelt verändert. Globale Krisen sind nicht mehr sporadische Ereignisse, sondern omnipräsente Begleiter des Alltags. Klimakrise, geopolitische Konflikte, gesellschaftliche Polarisierung, wirtschaftliche Unsicherheiten – nichts davon passiert im Verborgenen. Jede Nachricht erscheint im Sekundentakt, oft emotional aufgeladen, häufig dramatisiert, fast immer ohne Kontext. Das Gehirn sieht dabei nicht die Distanz zwischen sich und dem Ereignis; es nimmt nur wahr, dass „Bedrohung“ besteht. Die Umweltpsychologie zeigt klar, dass diese ständige Konfrontation mit globalen Problemen die Stressreaktion junger Menschen erhöht, selbst wenn sie selbst nicht unmittelbar betroffen sind (Clayton, M. S., Yeung, N., & Cohen Kadosh, R. (2015). The roles of cortical oscillations in sustained attention.Trends in Cognitive Sciences, 19(4), 188–195. https://doi.org/10.1016/j.tics.2015.02.004 )
Hinzu kommt ein subtilerer, aber enorm wirkungsvoller Aspekt: Viele junge Menschen haben weniger Gelegenheiten gehabt, echte Resilienz zu entwickeln. Nicht, weil sie unfähig wären, sondern weil sie – im besten Sinne – behütet waren. Viele Eltern wollten ihren Kindern Leid ersparen, ihnen den Weg erleichtern, sie schützen. Eine verständliche Haltung, denn niemand sieht gern sein Kind scheitern oder leiden. Doch gerade dieses Scheitern, gerade diese kleinen Erschütterungen, die frühen Konflikte, die ersten selbst gelösten Probleme, bilden die Basis für eine stabile Stressarchitektur.
Aus PNI-Sicht ist Resilenz kein Geschenk, das man einfach hat, sondern ein System, das sich in der Kindheit und Jugend durch Wiederholung formt. Analog zu Muskeln wird es stärker, wenn es gefordert wird – aber nicht überfordert. Wenn kleine Herausforderungen fehlen, bleibt das Stresssystem vergleichsweise unerprobt. Ein Kind, das nie erfahren muss, wie es sich selbst beruhigt, wenn eine Schwierigkeit auftaucht, hat biologisch gesehen weniger neuronale Pfade, auf die es später zurückgreifen kann. Ein Erwachsener, dessen Stresssystem zum ersten Mal ernsthaft arbeiten muss, hat in etwa so viel Routine wie jemand, der zum ersten Mal in seinem Leben auf eine Skipiste gestellt wird und direkt eine schwarze Abfahrt hinuntergleiten soll.
Das bedeutet nicht, dass diese Generation schwächer ist – im Gegenteil. Sie muss mit einer Welt klarkommen, die zuvor niemand erlebt hat. Während frühere Generationen ein Stresssystem hatten, das von klein auf trainiert wurde, trifft der Stress heute oft auf Strukturen, die noch nie richtig getestet wurden. Viele junge Menschen erleben ihre erste große Stressbelastung erst, wenn sie mit Schulstress, Universitätsdruck, Jobunsicherheit oder komplexen Beziehungssituationen konfrontiert werden. Ihr inneres System reagiert dann nicht, weil es defekt wäre, sondern weil es untrainiert ist.
Das ist vergleichbar mit einer Feuerwehr, die jahrelang nur kleine Papierkörbe löschen musste und plötzlich vor einem brennenden Hochhaus steht. Sie ist nicht unfähig – sie war einfach nicht ausreichend vorbereitet, weil niemand ahnen konnte, dass die Feuer dieser Generation so viel größer, schneller und unberechenbarer sein würden.
Wenn wir das verstehen, wird klar: Es geht nicht um Schuld, sondern um Bedingungen. Das moderne Umfeld ist ein ganz anderes als das der Vergangenheit, und das Stresssystem der heutigen jungen Generation wird mit einer Art Dauerintensität belastet, die biologisch nie vorgesehen war. Aber genau deshalb ist es so wichtig, neue Wege der Stresskompetenz zu entwickeln – Wege, die die heutige Realität berücksichtigen, nicht die nostalgische Vorstellung einer Welt, die längst nicht mehr existiert.
Wie junge Menschen heute trotzdem Resilienz aufbauen können – ohne ins Kloster zu ziehen
Ein geschwächtes Stresssystem ist kein endgültiges Urteil, sondern eher ein Hinweis darauf, dass das Nervensystem eine Art Wellness-Programm braucht – allerdings kein mit Gurkenscheiben und Bademantel, sondern eines, das auf neurobiologischer Ebene wirkt. Die PNI zeigt eindrucksvoll, dass unser Nervensystem hochgradig plastisch ist. Es kann sich anpassen, verändern, neu verschalten und sogar alte Belastungsmuster überschreiben. Resilienz ist daher kein Charakterzug, sondern ein lebendiger Prozess. Und dieser Prozess beginnt immer mit der gleichen Grundlage: Das Nervensystem muss lernen, wieder zwischen Aktivierung und Entspannung zu wechseln. Genau in diesem Wechselspiel entsteht innere Stärke.
Damit junge Menschen resilienter werden, braucht es zunächst eine Rückkehr zu etwas, das in unserer heutigen Kultur fast exotisch wirkt: natürliche Ruhe. Und zwar echte Ruhe, nicht die Art Pause, die man beim Scrollen durch drei soziale Netzwerke gleichzeitig einlegt. Ruhe bedeutet, das Gehirn aus dem Informationsstrom herauszuheben. Kein Mensch – und wirklich kein einziger – ist dafür gemacht, ständig erreichbar zu sein, permanent auf Reize zu reagieren oder in jeder Minute des Tages „aktuell informiert“ zu bleiben. Unser Nervensystem stammt aus einer Zeit, in der eine Nachricht im Durchschnitt so lange brauchte wie ein wandernder Nachbar, der über Feldwege lief. Heute arbeiten wir mit einem Kommunikationssystem, das schneller ist als die eigene Stressverarbeitung. Diese Diskrepanz ist einer der Hauptgründe, warum Nervensysteme kollabieren.
Deshalb ist es so entscheidend, Rückzugsräume zu schaffen, in denen das Gehirn wieder in seine natürliche Regenerationsfrequenz sinken darf. In solchen Phasen kann die HPA-Achse herunterfahren, das Immunsystem sich neu sortieren, und emotionale Reize werden verarbeitet, statt gespeichert oder unterdrückt. Ruhe ist nicht faul. Ruhe ist Regulation. Ruhe ist biochemisch gesehen ein Akt der Selbstheilung.
Ebenso essenziell ist echter sozialer Kontakt. Aus PNI-Perspektive sind Beziehungen nicht einfach „nice to have“, sondern ein neurobiologisches Heilmittel. Der Körper reagiert messbar auf soziale Nähe: das Stresshormon Cortisol sinkt, Oxytocin steigt, das Immunsystem beruhigt sich. Menschen heilen im Kontakt miteinander, weil wir neurobiologisch auf Co-Regulation ausgelegt sind. Der Psychologe Bert Uchino fand in seinen Arbeiten (Uchino, B. N. (2006). Social support and health: A review of physiological processes potentially underlying links to disease outcomes. Journal of Behavioral Medicine, 29(4), 377–387. https://doi.org/10.1007/s10865-006-9056-5 ) überzeugende Hinweise darauf, dass soziale Verbundenheit nicht nur emotional, sondern körperlich schützt – sie dämpft Stressreaktionen, senkt Entzündungsaktivität und stabilisiert das Herz-Kreislauf-System. Der Körper unterscheidet dabei klar zwischen „digitaler Interaktion“ und „echtem Kontakt“. Likes lösen keine Oxytocin-Ausschüttung aus. Eine Umarmung schon. Eine Sprachnachricht kann Nähe vermitteln, aber sie ersetzt kein Gesicht, keine Stimme, kein gemeinsames Schweigen. Das Nervensystem weiß, was echt ist.
Ein weiterer Baustein der Resilienz ist Bewegung – und die PNI feiert Bewegung wie ein biologisches Allheilmittel. Wenn der Körper sich bewegt, wird Stressregelung wieder auf Werkseinstellung gestellt. Bewegung reguliert Hormone, moduliert das Immunsystem und reduziert Entzündungsmarker, die wiederum eng mit Stressbelastung verbunden sind. Die Forschung von Pedersen und Saltin (Pedersen, B. K., & Saltin, B. (2015).Exercise as medicine – evidence for prescribing exercise as therapy in 26 different chronic diseases. Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 25(S3), 1–72.https://doi.org/10.1111/sms.12581 ) zeigt sehr deutlich, wie Bewegung das Immunsystem herunterfährt, das Stresssystem entlastet und sogar depressive Symptome reduziert. Kurz gesagt: Bewegung macht den Körper wieder durchlässig für Entspannung. Sie ist der natürliche Gegenpol zu digitaler Überstimulation und innerer Spannung. Das Schöne daran: Bewegung ist nicht elitär. Sie verlangt keine Perfektion, keine teuren Geräte, keinen Marathon. Schon kleine, regelmäßige Impulse bringen das Nervensystem zurück in Balance.
Und dann gibt es noch einen letzten, tiefgreifenden Punkt, der für junge Menschen heute vielleicht der wichtigste ist: Sie dürfen lernen, den Alltag wieder als Trainingsfeld für kleine Herausforderungen zu begreifen. Viele von ihnen haben es nie wirklich erlebt, wie es ist, Probleme selbst zu lösen, weil moderne Lebenswelten – oft aus guter Absicht – Hindernisse effizient entfernen. Doch das Stresssystem braucht diese kleinen Stolpersteine, weil es daran wächst. Jede Entscheidung, die man selbst trifft, jeder Moment, in dem man merkt „Ich habe das geschafft“, jedes Wiederaufstehen nach einem Fehler, baut innere Stärke auf. Das Gehirn registriert solche Erfahrungen nicht nur emotional, sondern strukturell: Es bildet neue synaptische Verbindungen, stärkt neuronale Netzwerke, reduziert Überaktivität in der Amygdala und erhöht die Selbstwirksamkeit. Genau diese Prozesse machen ein Nervensystem widerstandsfähig.
Training ist nicht bequem – aber es ist transformierend. Und genau wie körperliches Training beginnt auch Resilienztraining nicht mit einem Marathon, sondern mit kleinen, machbaren Herausforderungen. Das können unangenehme Gespräche sein, neue Aufgaben, bewusste Entscheidungen, Grenzen setzen oder auch schlicht der erste Abend ohne Handy. Jede dieser kleinen Mutproben verändert das Nervensystem langfristig im positiven Sinne.
Resilienz entsteht also nicht durch Rückzug aus dem Leben, sondern durch ein bewusstes, reguliertes und selbstbestimmtes Eintauchen in das Leben. Gerade junge Menschen können heute lernen, sich selbst wieder zu spüren, sich zu regulieren und Herausforderungen zu gestalten, statt ihnen ausgeliefert zu sein. Das macht sie nicht nur stabiler – es macht sie freier.
Die Welt hat sich verändert – aber Resilienz bleibt lernbar
Prechts Aussage mag im ersten Moment hart und brutal klingen, fast so, als würde jemand ein Schlaglicht auf eine verletzliche Stelle richten. Doch seine Worte sind keinenfalls Kritik an jungen Menschen und schon gar keine Abwertung ihrer Fähigkeiten. Was er beschreibt, ist eine Realität, die man nur verstehen kann, wenn man den Blick von der Oberfläche löst und auf die tiefere Ebene wechselt – auf die Ebene der Biologie, der Psychologie, der gesellschaftlichen Entwicklung. Wir leben in einer Welt, die schneller dreht als jede Generation zuvor. Sie ist lauter, fordernder, unmittelbarer und ungefilterter. Und während die äußere Welt im Sprint rennt, arbeitet unsere Biologie immer noch im Rhythmus einer Zeit, in der ein Tag mit Feuerholz sammeln, Beerenpflücken und vielleicht einem nachmittäglichen Nickerchen völlig ausreichend war, um das Nervensystem in Balance zu halten.
Frühere Generationen waren nicht stärker, und sie hatten auch nicht mehr Willenskraft oder ein geheimnisvolles Talent, das heute verloren gegangen wäre. Sie hatten schlicht andere Bedingungen. Sie lebten in einer Umwelt, in der Stress natürlich integriert war: phasenweise aktivierend, phasenweise beruhigend. Das Leben bot Momente intensiver Belastung, gefolgt von viel Raum für Erholung. Es war eine Welt, in der Entspannung kein selbstgeplanter Akt war, sondern eine Konsequenz der Lebensbedingungen. Und deshalb wirkte die Stressbewältigung dieser Generationen oft so selbstverständlich: Sie entstand organisch aus dem Alltag heraus.
Die heutige Generation dagegen ist nicht schwächer – sie trägt die Last einer völlig neuen Komplexität. Junge Menschen navigieren durch ein Umfeld, das neurobiologisch betrachtet eher einem Dauerfeuer gleicht als einer harmonischen Abfolge von Spannung und Entspannung. Sie sind mit globalen Krisen konfrontiert, die emotional so belastend sind, dass selbst Erwachsene mit langjähriger Lebenserfahrung manchmal kaum wissen, wie sie all das verarbeiten sollen. Sie werden permanent abgelenkt, stimuliert und gefordert. Und gleichzeitig hatten viele von ihnen weniger Gelegenheit, früh jene kleinen Widerstandskräfte zu entwickeln, die man später im Leben so dringend braucht.
Doch genau in dieser Herausforderung liegt auch eine enorme Chance. Denn Resilienz ist kein Talent, das man besitzt oder eben nicht besitzt. Resilienz ist ein biologischer Prozess, ein dynamisches Zusammenspiel aus neuronaler Plastizität, hormoneller Regulation, emotionaler Erfahrung und sozialer Unterstützung. Sie kann wachsen, sich verändern, neu entstehen – in jedem Alter. Das Nervensystem bleibt formbar, egal ob man acht Jahre alt ist oder achtundsechzig. Und das bedeutet: Jeder Mensch kann lernen, sein Stresssystem zu beruhigen, innere Klarheit zu entwickeln und sich Schritt für Schritt ein Leben aufzubauen, in dem Belastungen nicht mehr erdrückend wirken, sondern bewältigbar.
Resilienz entsteht, wenn wir verstehen, wie unser Nervensystem funktioniert. Wenn wir lernen, unsere eigenen Grenzen zu spüren, statt sie chronisch zu überschreiten. Wenn wir den Mut entwickeln, kleine Herausforderungen bewusst anzunehmen, statt ihnen auszuweichen. Und wenn wir echte Verbindungen pflegen – Verbindungen, die unser System beruhigen, uns tragen, uns spiegeln und uns erinnern, dass wir nicht allein durch die Welt gehen müssen.
Ja, junge Menschen haben es heute schwerer. Aber sie haben gleichzeitig mehr Wissen, mehr wissenschaftliche Erkenntnisse, mehr Zugang zu Selbstreflexion und Bewusstsein als jede Generation vor ihnen. Sie haben die Möglichkeit, ihre Resilienz nicht nur passiv zu erben, sondern aktiv zu gestalten. Und genau darin liegt die Kraft dieser Zeit: Wir können lernen, bewusster zu leben, bewusster zu fühlen und bewusster zu regulieren. Resilienz ist kein Zufallsprodukt mehr – sie ist eine Entscheidung, eine Praxis, ein Weg.
Und so bleibt am Ende eine Frage, die jeder junge Mensch – und auch jeder Erwachsene – sich selbst stellen darf, ganz ohne Druck, aber mit der Offenheit eines ehrlichen inneren Gesprächs:
Welche erste kleine Entscheidung könnte ich heute treffen, die mein Nervensystem spüren lässt, dass ich mich auf die Reise zurück zu meiner inneren Widerstandskraft mache?



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